André Scheer, Falko Blumenthal und Dr. Thomas Keslter Photo: Matthias Rüby/ matthiasrueby.de |
Referenten waren André Scheer, Journalist und Chef des Auslandsressorts der jungen Welt, der seit Ende der 1990er Jahre zu Venezuela publiziert und im Januar eine Reportagensammlung aus dem Wahlkampf herausgegeben hat, und Dr. Thomas Kestler, der über seine Abschlussarbeit, seine Dissertation und seine aktuelle Forschungsarbeit die Entwicklungen des politischen Systems Venezuelas verfolgt hat.
Ende des Jahres 2012 gewann Hugo
Chavez, trotz seiner schweren Krebserkrankung, eine weitere
Präsidentschaftswahl in Venezuela. Seine Regierungskoalition aus der
PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) und weiteren
linken Parteien, u.a. der Kommunistischen Partei, regiert seit 1999.
In dieser Zeit wurde die Ölproduktion verstaatlicht. Neben die
konservative Verwaltung wurde ein auf den Präsidenten ausgerichtetes
System von Programmen, sogenannte „Missiones“ zur
Armutsbekämpfung, medizinischen Versorgung und Alphabetisierung der
Slums errichtet. In der Auseinandersetzung mit den
privatwirtschaftlichen Medien wurde der öffentlich-rechtliche
Rundfunk ausgebaut und ein Netzwerk von Nachbarschaftssendern
entwickelt.
Massive Umbrüche in der Sozialstruktur
schlugen sich in politischen Auseinandersetzungen nieder.
Putschversuche, Amtsenthebungsreferenda und Klagen vor dem Obersten
Gerichtshof scheiterten genauso wie oppositionelle Wahlbündnisse der
ehemaligen Venezuela wechselseitig regierenden Kartellparteien.
Westliche Beobachter fühlen sich angesichts dieser Kombination von
Sozialprogrammen, umfassender Politisierung der Bevölkerung und
Beschneidung der Vorrechte der weißen Oberschichten an den
Peronismus erinnert. Die PSUV und ihre Verbündeten selbst sprechen
von der Bolivarischen Revolution, i.e. der Fortführung des
antikolonialen Kampfes Simon Bolivars hin zu einem Sozialismus des
21. Jahrhunderts.
Auf internationaler Ebene erreichte
Huge Chavez Aufmerksamkeit durch seinen Schulterschluss mit der
kubanischen Regierung. Gemeinsame Rhetorik gegen die USA ging einher
mit intensiver wirtschaftlicher Kooperation in Form von
wissenschaftlich-technischer Entwicklungshilfe vonseiten Kubas und
massiver venezolanischer Ölgeschenke an die sozialistische
Inselrepublik. Nach Konfrontationen in der Organisation
Amerikanischer Staaten begründeten Venezuela und seine Verbündeten
die wirtschaftspolitischen Allianzen Mercosur und ALBA. Ziel ist eine
in der Karibik und Nordlateinamerika geltende gemeinsame Währung und
Integration der Wirtschaft der Großregion in Abgrenzung zu den
Vereinigten Staaten. Zu den Partnern in der Region gehören vor allem
Bolivien unter Evo Morales (Bewegung für den Sozialismus) und
Equador unter Rafael Correa (Vaterlandsbewegung).
In einem Paradebeispiel von
neorealistischem Counter-Balancing kooperiert Venezuela mit Staaten
außerhalb der westlichen Einflusssphäre. Hier hat die Volksrepublik
China eine besondere Bedeutung, die eine Reihe von
Industriekooperationen mit Venezuela, aber auch mit dem
linkssozialdemokratisch regierten Brasilien, im Rahmen der
Süd-Süd-Kooperation durchführt. Zu erwähnen ist hier Telesur, ein
lateinamerikanisch ausgerichteter Fernsehsender, der dank
chinesischer Satelliten weltweit und unabhängig von
privatwirtschaftlich gehaltenen Kabelnetzen empfangbar ist. Venezuela
ist ein wichtiger Kunde der russischen Militärindustrie, Hugo Chavez
setzt vor allem auf Kleinfeuerwaffen und Helicopter, kurz den Krieg
in den Bergen und Wäldern. Auch mit dem Iran bestehen
Handelsbeziehungen, vor allem in der Hochtechnologie.
Das erste Quartal 2013 ist beherrscht
von der Debatte, ob ein kranker Präsident zeitweise die
Regierungsgeschäfte abgeben darf, ob es legitim ist, den von der
Verfassung vorgegebenen Zeitpunkt der Vereidigung wegen der
Krebserkrankung zu verschieben, ob die Bolivarische Revolution ohne
ihre mobilisierende und Zusammenhalt stiftende Figur Chavez
weiterhin eine Chance hat. Dies vor dem Hintergrund einer
Legitimitätsdebatte, ob Massendemonstrationen, Volksabstimmungen und
Wahlen ausreichende Kriterien sind für ein demokratisches System und
der durch die sozialistischen Umgestaltungen hervorgerufene
Destabilisierung der Industrie und des Handels in Venezuela.
Die Herausforderung der Veranstaltung bestand darin, ein geteiltes Publikum, in dem sich Offizierskandidaten der Bundeswehr-Universität und Kommunistinnen mischten, mit der Moderation eines kritischen Politikwissenschaftlers und eines optimistischen Journalisten zu verbinden.
Ich habe mich über die Herausforderung gefreut und bin dankbar, dass die Studierenden vom Jungen Forum so undurchschaubaren und mehrdimensionalen Themen wie der Bolivarischen Revolution in Lateinamerika ihre Energie widmen. Mit über 85 Teilnehmern war der Veranstaltungsraum im Amerika Haus etwas zu voll. Dennoch war die Debatte sachlich, bei guter Atmosphäre und sowohl venezolanische Studenten als auch deutsche Lehrer konnten neue Ideen mit nach Hause nehmen.
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